Brief an Betty Emmering

Liebe Betty Emmering,
ich schreibe dir diesen Brief und weiß gar nicht, wie ich überhaupt anfangen soll. Ich würde dir gerne sagen, wie leid es mir tut, dass Deine Flucht nicht geglückt ist und Du nach Auschwitz deportiert wurdest. Doch meine Worte würden nichts ändern, oder? Wie leid es mir tut, interessierte dich gar nicht, oder? Sollte ich mich für das, was passiert ist, was Vergangenheit scheint, schuldig fühlen? Es scheint vielleicht vergangen, doch niemals verblasst. Niemals vergessen. Dich und alle anderen wird man niemals vergessen.

HIER WOHNTE
BETTY EMMERING
GEB. LISSAUER
JG. 1881
FLUCHT HOLLAND 1935
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1943
BERGEN-BELSEN
ERMORDET 11.10.1944
AUSCHWITZ
Dies steht nun in Lübeck auf einem Stolperstein. Das ist eine kleine Gedenktafel, die für dich und auch deine Familienmitglieder und auch für andere ermordete Juden in den Bürgersteig eingelassen wurde – man findet die Stolpersteine in ganz Lübeck auf der Straße, wenn man bereit ist, hinzuschauen. Wir – die Menschen, die heute in Deutschland leben, wollen nicht, dass ihr in Vergessenheit geratet. Wir werden das verhindern.
Ich frage mich, als du nach Holland geflohen bist und dann kurze Zeit später Holland auch von den Deutschen besetzt wurde, wusstest du schon, was passieren würde? Wusstest du, dass wenn sie dich finden würden, du eingesperrt werden würdest? Als du die ersten Schritte auf dem Gelände Auschwitz‘ machtest, war dir da bewusst, dass du nicht mehr lange zu leben hattest? Hattest du Hoffnung? Oder war es zu spät, um noch auf Befreiung zu hoffen? Was verspürtest du, als dein Bruder und deine beiden Söhne noch vor dir ermordet wurden? Spürt man da überhaupt noch etwas oder sind die Gefühle abgeschnitten, gelöscht. Wir können uns nicht im weitesten vorstellen, was Du wirklich durchgemacht hast. Du hast gearbeitet, deine Söhne und deine Tochter noch jung und auf einmal wendete sich das Schicksal. War es Schicksal? War es nicht einfach nur Unrecht? Entscheidungen über Leben und Tod, nicht von dir selbst entschieden, sondern von jemanden, dem man nie wirklich ein Gesicht geben konnte. Natürlich gab es Anführer, Leiter, oberste Führer, doch auch die Gesellschaft verurteilte dich für deine Ethnie. Machte es dich wütend? Oder warst du enttäuscht? Davon, dass Deine Mitmenschen dieses Unrecht in Deutschland einfach geschehen ließen. War es furchteinflößend? Konntest du dir überhaupt vorstellen, was dich in Auschwitz erwarten würde? Warst du frustriert, nichts daran ändern zu können?
Du warst ein Mensch, wie jeder andere. Was hattest du getan, dass dir so etwas angetan werden durfte? Du warst einfach nur ein Mitglied einer anderen Religion. Du hast Dir nichts zuschulden kommen lassen und trotzdem wurdest du gedemütigt, erniedrigt. Dafür wer du warst. Dafür wer deine Familie war. Dafür, Jüdin zu sein.
Hattest du Träume? Wünsche? Warst du mit dem Leben, wie es vor der Shoah war, glücklich? Hattest du alles, was du wolltest? Kinder, ein Heim in Lübeck, Arbeit.
Wann sahst du deine Kinder das letzte Mal? Wusstest du, dass du sie nie wieder sehen würdest? Wusstest du überhaupt, dass sie vor dir starben? Wusstest du, was Auschwitz bedeutete? Wusstest du, dass du sterben wirst? Hast du gekämpft? Für dein Wohl, deine Stimme und deine Freiheit?
Du warst damals ungefähr so alt, wie meine Oma heute. Meine Oma ist noch nicht die älteste. Sie hat einen unglaublichen Lebenswillen, hilft uns, also ihrer Familie, wie und wo sie kann und ist immer für uns da. Ich denke nicht, dass sie kampflos alles stehen und liegen lassen würde und Befehlen Folge leisten würde. Sie ist stark. Und ich denke genauso stark und auch stärker warst du. Unglaublich stark. Für uns unvorstellbar.
Ich hoffe sehr, dass Dein Leben bevor die Nazis an die Macht kamen, ein schönes Leben war. Wir denken hier heute in Auschwitz an dich und an alle anderen. Wir denken nicht nur heute an Dich. Wir vergessen dich nicht.
Deine Aenne Wagener

 

Zurück zur Übersicht